Neue Weichenstellungen für Ostdeutschland

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erläutert im Forum DL21 seine Thesen zur Situation in Ostdeutschland.

Die Debatte, die der Veröffentlichung meiner Thesen folgte, hat eines schon gezeigt: Es war richtig, eine grundsätzliche Diskussion der Zukunftsfragen der neuen Länder herauszufordern. Und zwar in und mit der eigenen Partei, damit wir auch hier die Initiative wiedergewinnen! Obwohl der politische Argumentationszusammenhang in der öffentlichen Diskussion kaum berührt wurde - was nicht weniger symptomatisch ist, als die Reduzierung der Thesen auf den Satz: "Der Osten steht auf der Kippe!": Es geht um die Zukunft der Sozialdemokratie im Osten! Es geht um die Frage, wie wir unsere Mehrheitsfähigkeit in den neuen Ländern, die nach der CDU-Dominanz seit 1990 erstmals 1998 gelang, sichern oder gar ausbauen. Es sei erinnert: Es waren diese Zugewinne und die enormen Verluste der CDU im Osten, die uns im Bund regierungsfähig machten. Die meisten der vielen Zuschriften aus der ostdeutschen Parteibasis knüpfen hier an. Aus ihnen spricht die Furcht vor einem Wegbrechen unserer gesellschaftlichen Basis im Osten, vor einer anhaltenden Resignation oder Gleichgültigkeit in breiten Schichten, gegen die am Ende auch unsere Appelle für ziviles Engagement und demokratische Gesinnung nicht ankommen werden. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt eine Menge Vertrauenskapital in die Demokratie. Ein abgehängter Osten mag zu schwach sein, diese Republik zu gefährden, beschädigen kann er sie durchaus.
Wie ernst ist die Lage? Ich will auf die jüngste Statistik aus Nürnberg hier nicht verweisen, obwohl sie meine Feststellungen, die sich auf den Stand Oktober 2000 bezogen, noch übertreffen. Ich habe "eine ehrliche Bestandsaufnahme" der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Ostdeutschland gefordert. Die Kontroverse über die Formulierung "auf der Kippe" scheint mir so müßig, wie die Meditationen über das "halbvolle Glas". Der Hauptsatz meiner ersten These heißt:
"Die Zukunft Ostdeutschlands entscheidet sich deshalb nicht erst im Jahr 2004, wie das Ringen um die Fortsetzung des Solidarpaktes der Öffentlichkeit glauben macht, sondern noch vor der kommenden Bundestagswahl!"
Das will sagen: Wenn der gegenwärtige Zustand anhält, stellt sich ein ökonomisch, sozial und politisch außerordentlich ungünstiges Szenario ein. Denn niemand bestreitet: Das Wachstum in den neuen Ländern liegt seit 1997 unter dem der alten Länder, die West-Ost-Schere hat sich wieder geöffnet. Wer behauptet, der Angleichungsprozeß sei "ins Stocken geraten" versteht nicht die Zahlen: Geringeres Wachstum bedeutet ein Auseinanderdriften der Entwicklung. Die strukturelle Schwäche der Wirtschaft der neuen Länder ist derart groß, dass sie selbst in einer konjunkturellen Aufwärtsphase nicht mithalten kann. Das BIP je Einwohner liegt unverändert 40% unter dem westdeutschen, die stärksten neuen Länder liegen weiter unter den schwächsten der alten, die Exportschwäche hält an, die Abwanderung der Jüngeren und "Leistungsträger" nimmt wieder zu, die Unterbeschäftigung verharrt ungeachtet der günstigen konjunkturellen Entwicklung auf hohem Niveau.
Das alles ist bekannt. Inzwischen ist auch unstrittig: Die hohen West-Ost-Transfers müssen auf lange Sicht gezahlt werden. Aber das ist eben keine hinreichende Antwort. Wie lange wird man eigentlich von der "Aufrechterhaltung der Förderung des Ostens auf hohem Niveau" reden können, ohne sagen zu müssen, wie man die Situation ändern will? Dies ist nicht nur im Interesse der Geberseite, sondern auch der Nehmerseite. Wer mir ostdeutschen Zweckpessimismus unterstellt, hat eines nicht verstanden: Die Folgekosten der Vereinigung werden geradezu maximiert, wenn Alternativen zum Status-quo ausgeschlossen sind, wenn die Formel "Verstetigung" einzige Antwort bleibt. Wer damit gesamtdeutsche Harmonie pflegen will, sollte wissen: Dies wird die teuerste Lösung für das ganze Land und nicht harmonisch ausgehen! Sind die Chancen für einen selbst tragenden Aufschwung, eine dynamische Re-Industrialisierung einmal verloren, stehen wir im Falle einer Rezession in Ostdeutschland vor schwer beherrschbaren ökonomischen und politischen Problemen. Schließlich: Die Osterweiterung der EU wird ohne einen sichtbaren Entwicklungsschub, ohne ein flankierendes Konzept, auf massive Vorbehalte stoßen. Was ist also zu tun?

1. Wir müssen endlich zu einer gemeinsamen Diagnose der gegenwärtigen Situation, also zu einer realistischen Status-quo-Prognose kommen.
Obwohl die von mir vorgelegten Daten niemand anzweifelt, gibt es über meine Diagnose Streit. Ist das zurückbleibende gesamtwirtschaftliche Wachstum dauerhaft oder vorübergehend? Ist es nur durch die Rückbildung der Baukapazitäten verursacht oder ist das Zurückbleiben Ausdruck des Auslaufens des ersten Investitionsbooms auf ein anhaltendes Niedrigniveau? Wie ist das vergleichsweise hohe Wachstum des verarbeitendes Gewerbes zu beurteilen? Gibt es Tendenzen der weiteren Angleichung des Produktivitätsniveaus? Wie stark ist das endogene ostdeutsche Wirtschaftspotential wirklich? Selbst wenn es auf diese Fragen noch keine eindeutige Antwort gibt: Die Hypothese, daß es sich um einen anhaltenden Schwächezustand handeln könnte, liegt nicht nur auf der Hand, sie ist längst ins praktische Kalkül der Menschen und Manager eingeflossen. Das bestätigen ostdeutsche Unternehmensvertretungen und Gewerkschaften, nicht zu reden von den jungen Leuten, die eine Perspektive nur noch im Westen sehen. Handeln ist also angezeigt!
Ich behaupte deshalb: ohne ein neues und möglichst bald zu formulierendes strategisches Konzept für die sogenannte "Zweite Hälfte des Weges" ist kein Aufschließen möglich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die vorhandenen, teuer bezahlten Grundlagen dafür erodieren. Dabei wäre es nicht nur schade ums Geld: Es geht um den entscheidenden, allerdings nachweislich nicht hinreichenden Pfeiler der wirtschaftlichen und sozialen Transformation Ostdeutschlands - seine hochsubventionierte öffentliche Infrastruktur als positiven Standortfaktor.

2. Wenn Stabilität und Vertrauen in die Region zurückkehren sollen, braucht es verläßliche Rahmenbedingungen, vor allem aber müssen Prioritäten bei Zukunftsinvestitionen im Osten gesetzt werden. Die zentrale Aussage meiner Argumentation - ein Investitionsprogramm für Ostdeutschland aufzulegen, das vor dem Hintergrund "verläßlicher Rahmenbedingungen" bereits in den nächsten 5 Jahren greift - bedarf in der Tat neuer Überlegungen, wie es zu gestalten und zu finanzieren ist. Ich will das im Zusammenhang mit meiner 3. These erläutern: "Wenn das Ziel, der Aufbau einer eigenständigen wirtschaftlichen Basis in Ostdeutschland erreicht werden soll, müssen die Prinzipien der Förderpolitik auf ihre nachhaltige und Arbeit schaffende Wirkung überprüft und im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union an einem Leitbild der Entwicklung Ostdeutschlands in europäischer Perspektive orientiert werden."
Vor einer "Zweiten Investitionsoffensive" steht selbstverständlich die Frage nach einer sinnvollen und optimalen Investitionsstrategie. Investitionen in die öffentliche Infrastruktur machen vor allem und zuerst dort Sinn, wo sie wirkliche Anreize für private Investitionstätigkeit schafft. Veränderungen in der Förderstrategie, beim Förderniveau, der Sektoralstruktur, der Berücksichtigung von Wertschöpfungsketten, Technologie- und Innovationsorientierung, das Präferenzgefälle, die Definition von Zielregionen, aber auch die Fragen der EU - Beihilfe - Konformität gehören in eine solche Strategie. Passive oder aktive Investitionslenkung, die Mobilisierung externer Potentiale, könnte anderweitig Lücken reißen. Deshalb sollten sich die Investitionen strategisch auf Zukunftsmärkte orientieren. Dazu gehören zum Beispiel Technologien alternativer Energie- und Ressourcenbewirtschaftung, die für die mittelständisch geprägte industrielle Basis im Osten interessant sind. Vor allem aber geht es um jene Märkte, die sich im Rahmen der EU-Osterweiterung ergeben werden. Die Entwicklung des Standortes Ostdeutschland bedarf folglich eines Leitbildes Ostdeutschlands in europäischer Perspektive.

3. Die Entwicklung optimaler Investitionsstrategien in den Bereichen Infrastruktur und Wirtschaftsförderung und -ansiedlung schließt begleitende oder alternative Instrumente nicht aus, ersetzt sie aber nicht.
Als alternatives Konzept zu einer erneuten Investitionsoffensive (oder damit kombiniert) wird oft die Senkung der Lohnstückkosten, etwa durch Einfrieren der Reallöhne auf jetzigem Niveau und weitere Produktivitätsförderung nahegelegt. Sinnvoll und politisch akzeptabel wäre diese nur, wenn man die Folgen für die Mobilität der Arbeitskräfte, für die Qualität der Arbeitsmärkte, für die innere Lohndifferenzierung in den neuen Ländern, für die Binnenkaufkraft, für das soziale Sicherungsniveau, für die Ansiedlung mobiler Unternehmen, für die künftige Branchenstruktur sind so gestalten kann, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Dazu bedürfte es eines Bündnisses zwischen Politik, Gewerkschaften und Unternehmern, einen Sozialpakt, der tarifpolitische Zurückhaltung z.B. mit Steuerentlastung und/oder Vermögensbildung innerhalb des Flächentarifvertrages verbinden könnte.
Der Übergang zu regionalpolitischen Förderinstrumenten für die neuen Länder ist schon eine Weile in der Diskussion und deshalb beliebt, weil man glaubt, man bekäme das Thema vom Tisch, wenn die Ostdeutschen sich z. B. mit den Ostfriesen vergleichen. Unter Hinweis auf ostdeutsche "Gewinnerregionen" wie Dresden, Jena, Leipzig oder Potsdam - plädieren einige vorlaut für freien Wettbewerb der Regionen, was allemal gut klingt. Nur rate ich, zuvor zu prüfen, wie diese Städte ohne die laufenden Finanzzuweisungen und Fördertöpfe zurecht kommen wollen. Inklusive der stattlichen Förderkulisse rangieren die "Boom-Regionen Ost" noch allemal hinter dem schlechtesten Arbeitsamtsbezirk-West (Bremerhaven 14,6% Arbeitslosigkeit; vgl. Potsdam 14,8%, Dresden 15,3%, Jena 16,0%, Leipzig 18,7%). Die Empfehlung, die Probleme mit den Mitteln der Regionalpolitik in Ostdeutschland wie in Ostfriesland zu lösen, ist schlicht realitätsfremd. Eine Strategie der regionalpolitischen Umverteilung des mobilen gesamtdeutschen Entwicklungspotentials erfordert wenigstens den Nachweis, dass die Nettoeffekte positiv sind und dass parallel dazu eine gesamtwirtschaftliche Wachstumsstrategie verfolgt wird. Eine Förderung aller extrem strukturschwachen Großregionen zu gleichen Konditionen ist aber eine Politik, die sich nicht mit einem haushaltpolitischen Spar- und Konsolidierungskurs verträgt. Bleibt also nur noch die passive Sanierung Ostdeutschlands? Das hieße die Konzentration der Infrastruktur- und Wirtschaftsförderung auf einige wenige entwicklungsfähige Regionen und die Hinnahme eines "geförderten" Rückbaus in anderen Gebieten, vielleicht verbunden mit Anreizen für eine erhöhte "Mobilität" der dort lebenden Arbeitnehmer. Die Konsequenzen einer solchen Strategie wären nicht schmerzlos. Sie würden über viele Jahre den Osten nicht nur als wirtschaftliches, sondern auch als politisches Sondergebiet mit schwer berechenbaren Rückwirkungen für das ganze Land festschreiben.

Vorausgesetzt, wir halten an einer aktiven, auf die Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland zielenden Politik fest, dann sind wir jetzt zur neuen Weichenstellung aufgefordert. Es führt jedenfalls nicht weiter, die sympathische Losung auszugeben, man solle doch nicht länger von Ost und West reden. Man muß schon die Verhältnisse verändern, die diese Differenz zunehmend reproduzieren. Nicht zuletzt deshalb, weil sie zu Lasten des ganzen Landes geht.

* Wolfgang Thierse, MdB ist Bundestagspräsident und stellvertretender Parteivorsitzender der SPD