Halbzeit! Zur Debatte um die Alterssicherung

Systemwechsel in Rot-Grün

Dass das Altersicherungssystem die wichtigste Säule des deutschen Sozialstaates darstellt, war bisher weitgehend unumstritten.

Zweifelsfrei wurde ihm ein unverzichtbarer Beitrag zur
sozialstaatlichen Verfassung unserer Gesellschaft zugeschrieben. Drei
Komponenten prägen das deutsche System der Alterssicherung:

Zum Ersten beruht das deutsche Alterssicherungssystem auf mehreren
Säulen: der gesetzlichen Rentenversicherung, der betrieblichen
Altersvorsorge und der privaten Zusatzvorsorge. Laut Enquete-Kommission
"Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestags hat die gesetzliche
Rentenversicherung einen Anteil von 78,1 Prozent an der Gesamtleistung
der Alterssicherung in Deutschland (1995). Aus dieser zentralen Stellung
der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt sich bereits ihre Priorität in
einer solidarischen Reformpolitik.

Zum Zweiten ist der sozialpolitische Erfolg der Rentenversicherung nicht
zuletzt das Verdienst seiner tragenden Strukturprinzipien. Grundlegende
Konstruktionsprinzipien, die Finanzierungstechnik und der
Anpassungsmechanismus haben nicht nur ein erhebliches Maß an
ökonomischer Stabilität gewährleistet. Zugleich erwies sich die
Rentenversicherung als ausgesprochen flexibel, als es etwa galt, die
Jahrhundertaufgabe der sofortigen Integration von etwa 5 Mio.
ostdeutschen RentnerInnen zu bewältigen. Und schließlich gelang es, die im
Rentenbezug stehenden Generationen an der Wohlstandssteigerung der
Gesellschaft teilhaben zu lassen. Lag das Nettostandardrentenniveau in den
60er Jahren in der Nähe der 60 Prozent, so stieg es bis 1980 auf 70,3
Prozent und pendelt seit den achtziger Jahren um die 70-Prozent-Marke. (1)
Damit sichert es nach 40 bis 45 Versicherungsjahren ein Niveau, das 1983
von einer offiziellen Alterssicherungskommission als untere Grenze eines
"altersgemäßen Lebensstandards" definiert wurde. (2)

Schließlich ist die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern ein konstitutives Strukturprinzip der deutschen
Rentenversicherung. Bezog sich die paritätische Beteiligung der
Arbeitgeber in den Anfangsjahren faktisch auf eine Armenfürsorge, so trug
der Arbeitgeberbeitrag im Zuge der Teilhabe der RentnerInnen am
gesellschaftlichen Wohlstandswachstum zunehmend zur Finanzierung eines
Leistungsniveaus bei, das dem sozio-ökonomischen Entwicklungsstand der
Gesellschaft entsprach. Die paritätische Finanzierung im deutschen
Sozialstaat beschränkt sich also in ihrer Funktion nicht auf die Beteiligung
der Arbeitgeber an einer Grundversorgung.

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Der rentenpolitische Vorlauf

Die so konstruierte Rentenversicherung konnte sich bis vor geraumer Zeit
der Zustimmung einer breiten gesellschaftlichen Koalition sicher sein.

Vor allem die Standortdebatte hinterließ aber ihre Spuren. Noch vor der
letzten Bundestagswahl hatte die konservativ-liberale Regierungskoalition
unter Norbert Blüm eine Rentenreform vorgelegt, die aufgrund ihrer
Leistungskürzungen bei der SPD-geführten Opposition und den
Gewerkschaften auf heftige Kritik stieß. Im Zentrum dieser Kritik standen
der geplante "Demografie-Faktor", der das Netto-Standardrentenniveau bis
2030 auf etwa 64 Prozent herab drücken sollte, sowie die geplante
Ersetzung der heutigen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente durch ein
System einer Erwerbsminderungsrente.

Nach der gewonnenen Bundestagswahl machte die rot-grüne
Bundesregierung einige Härten des RRG 99 rückgängig und kündigte
zugleich bis zum Jahr 2000 eine grundlegende Rentenreform an. Das im
Juni 1999 von Bundesarbeitsminister Walter Riester vorgelegte
Rentenreformkonzept ließ jedoch bereits die Bereitschaft erkennen, mit
zentralen Solidarprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung
(Aussetzung der Rentenanpassung nach der Netto-Lohnentwicklung,
Aushebelung der paritätischen Finanzierung) und mit dem bisherigen
Sozialstaatskonsens zu brechen. (3) In den folgenden Monaten veränderte
die Bundesregierung einzelne Regelungen des Rentenkonzepts (Abschied
von der obligatorischen Privatvorsorge hin zur Förderung einer freiwilligen),
blieb jedoch bei den grundsätzlichen Eckpunkten ihres Strukturkonzeptes.
Zugleich begann sie "Renten-Konsens-Gespräche" mit Teilen der
parlamentarischen Opposition. Die Gewerkschaften legten im Februar 2000
ihrerseits ein gemeinsames Positionspapier (Positionen des DGB zur
Rentenstrukturreform) (4) vor.

Der Einstieg in das "Mischsystem"

Bereits das "Altersvorsorge-Paket" ließ deutlich werden, dass die
sozialdemokratisch geführte Regierung den Kräften nachzugeben bereit
war, denen Norbert Blüm noch widerstanden hatte. Dies überraschte um so
mehr, als die Kritik an den Blüm-Plänen und das Bekenntnis zur
solidarischen Rentenversicherung unbestritten einen entscheidenden Anteil
am Erfolg bei der Bundestagswahl 1998 hatte.

Schon seit Jahren zeichnete sich unter den Protagonisten kapitalgedeckter
Alterssicherungssysteme die Tendenz einer strategischen Neuorientierung
ab. Nicht mehr die Forderung nach einem radikalen Systemwechsel,
sondern die Perspektive eines "Mischsystems" rückte in den Mittelpunkt.
Diese sollte aus einer paritätisch und über Beiträge finanzierten Grundrente
und aus einer ausschließlich arbeitnehmerfinanzierten ergänzenden
Privatvorsorge bestehen.

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Dieser Strategiewandel ging teilweise sogar mit Entideologisierung der
Debatte einher. So werden plötzlich selbst in den Zentralen des
Sozialstaatsskeptizismus, etwa in der Deutschen Bundesbank, ökonomische
Sachverhalte anerkannt, die zuvor immer wieder mit erbitterter Härte
negiert worden waren. Dies gilt etwa für die Probleme, mit denen sich
angesichts der erwarteten demographischen Strukturverschiebungen auch
das Kapitaldeckungsverfahren konfrontiert sieht.

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem sozialpolitischer Romantik gewiss
unverdächtige Kreise mit lange verteidigten Mythen aufräumen, dient ein
neu ernannter Arbeitsminister Fachwelt und Öffentlichkeit das
Kapitaldeckungsverfahren als Antwort auf die demographischen Probleme
an - und dies auch noch mit dem Gestus, "Neues" gar "Innovatives" zu
präsentieren.

Dabei hat sich das von Bundesarbeitsminister Walter Riester vorgelegte
Rentenreformkonzept weitgehend gegen sozialpolitische Prüfkriterien
immunisiert. Denn nicht mehr die Leistungsfähigkeit der
Rentenversicherung gilt als Maßstab des Systems; vielmehr ist die gesamte
"Reform" aus der Zielperspektive einer Senkung bzw. Deckelung der
Beitragssätze zur Rentenversicherung formuliert. Die zentrale Stoßrichtung
der rot-grünen Rentenpläne, wie sie am 30. Mai 2000 (Modell 1) (5) und -
leicht modifiziert am 3/4.7. 2000 (Modell 2) (6) - der Öffentlichkeit unter
dem Titel "Deutschland erneuern - Rentenreform 2000" vorgestellt wurde,
zielt damit auf einen Systemwechsel.

Die versorgungspolitische Stoßrichtung:
Grundversorgung statt Lebensstandardsicherung

Nach den rot-grünen Rentenplänen in Modell 1 wurde das
Netto-Standardrentenniveau bis 2030 für Rentenneuzugänge auf ein (nach
neuen Kriterien berechnetes) Niveau von 64,2 Prozent gekürzt. Für das
Jahr 2050 ergab sich ein Rentenniveau von 54 Prozent. Durch diese
Einschnitte sollte der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung
bis zum Jahr 2030 in der Größenordnung von 22 Prozent gehalten werden.

Die so aufgerissene Sicherungslücke soll durch die Einführung einer
kapitalgedeckten Altersvorsorge geschlossen werden. Diese ist ohne
Beteiligung der Arbeitgeber durch die Arbeitnehmer zu finanzieren. Der
Aufbau dieser Privatvorsorge soll schrittweise ab 2001 mit Beträgen in
Höhe von 0,5 Prozent bis auf 4 Prozent des Bruttolohns im Jahre 2008
erfolgen. In die neue Rentenformel soll zugleich ein "Ausgleichsfaktor"
eingeführt werden. Der Ausgleichsfaktor in Modell1 verringerte bei der
erstmaligen Rentenfestsetzung die Rente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung in einer Höhe, die in Abhängigkeit von der Zahl der
Jahre stand, in denen bis zum Rentenbeginn eine kapitalgedeckte
Altersvorsorge aufgebaut werden konnte.

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Das Herabdrücken der gesetzlichen Rente in die Nähe der Sozialhilfe und
die Kürzung der über eigene Beitragsleistungen erworbenen Sozialrente um
die Hälfte eines realen oder fiktiven privaten Vorsorgebetrages stießen in
den Gewerkschaften auf strikte Ablehnung. Der Protest führte dazu, dass
am 3. und 4. Juli 2000 ein leicht abgewandeltes Konzept vorgeschlagen
wurde. Gegenüber Modell 1 unterscheidet sich Modell 2 vor allem in
folgenden Punkten:

Zum einen wurde die ursprüngliche Ausgestaltung des Ausgleichsfaktors
verändert. Zumindest offiziell soll die Privatvorsorge, deren Förderung eines
der zentralen Ziele des gesamten Projektes sein sollte, nicht mehr zum
Maßstab für die Kürzung der gesetzlichen Rente gemacht werden. Einer
mitgelieferten Modellrechnung ist ein linearer Ausgleichsfaktor zu
entnehmen, der ab dem Jahr 2011 die Renten für Rentenneuzugänge
jährlich um 0,3 Prozent kürzen und in jährlichen Schritten bis 2030 auf 6
Prozent anwachsen soll.

Insgesamt wurde das Kürzungsvolumen in Modell 2 gegenüber Modell 1
kaum verändert, jedoch zeichnet sich eine andere Aufteilung zwischen
Bestands- und Zugangsrenten ab. Für Neuzugänge nach dem Jahr 2030
sollen 64 Prozent nicht weiter unterschritten werden. Schließlich enthält
Modell 2 Formulierungen, die auf den ersten Blick eine Relativierung der
Beitragssatzhöhen von 20 Prozent im Jahre 2020 und 22 Prozent im Jahre
2030 nahe legen könnten.

Doch auch diese scheinbare Abkehr vom Dogma der
Beitragssatzdeckelung bei 20 bzw. 22 Prozent ist mehr Kosmetik als reale
Konzession. Die Soll-Formulierungen ändern nichts daran, dass alle
weiteren Betrachtungen nach wie vor davon ausgehen, dass im Jahr 2030
von der Beitragsseite her lediglich 22 Prozentpunkte zur Verfügung stehen.
Auch nach dem neuen Plan sinkt das Nettorentenniveau aus der
gesetzlichen Rentenversicherung für Rentenneuzugänge in 2030 auf etwa
60 Prozent. (7)

Die verteilungspolitische Stoßrichtung:
Abschied von der Parität

Die Eliminierung der Lebensstandardsicherung aus der Rentenversicherung
geht mit dem Bruch eines zweiten Strukturprinzips einher. Auch die
paritätische Finanzierung in der Alterssicherung wird preisgegeben. Durch
die vorgesehenen Kürzungen soll der Beitragssatz zur gesetzlichen
Rentenversicherung bis 2030 auf knapp 22 Prozent gehalten werden. Ohne
diese "Reform" würde er nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums
auf knapp 24 Prozent steigen, woraus sich eine paritätische Beitragslast von
jeweils 12 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergäbe.[1] Damit
wäre ein Niveau von 68,6 Prozent aus der Rentenversicherung zu
finanzieren, während das Gesamtversorgungsniveau in Modell 2 aber bei
knapp 69 Prozent liegen wird. Während die Arbeitgeber in 2030 einen
Beitragssatz von knapp 11 (statt 12 Prozent) zu tragen haben, müssen die
Arbeitnehmer 15 Prozent (11 Prozent Beitrag zur gesetzlichen
Rentenversicherung plus 4 Prozent Privatvorsorge) aufbringen.

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Der Verweis im SPD-Vorstandsbeschluss, bei der privaten Vorsorge
existiere eben keine sozialstaatliche Tradition der paritätischen Finanzierung,
ist für Sozialdemokraten schlicht peinlich. Sozialstaatliche Tradition in
Deutschland ist die Beteiligung der Arbeitgeber an einer Altersversorgung,
die ein möglichst den Lebensstandard sicherndes Niveau gewährleistet. Bis
vor wenigen Monaten bestand Konsens darüber, dass das Niveau von 70
Prozent jedenfalls nicht in größerem Umfang unterschritten werden darf.
Gerade dieses Niveau soll die gesetzliche Rentenversicherung nach den
rot-grünen Plänen aber nicht mehr sichern, um den Menschen einen
"Anreiz" zum Aufbau einer Privatvorsorge zu geben. Die Angst der
Menschen vor sozialer Unterversorgung im Alter ist Grundlage dieser den
Bürger "aktivierenden" Sozialstaatspolitik.

Den Entlastungen des Bundeshaushalts ist der Aufwand gegen zu rechnen,
der zur Förderung der Privatvorsorge bereit gestellt werden soll. Nach
Modell 1 sollte durch eine Erweiterung des Vermögensbildungsgesetzes der
Aufbau der zusätzlichen Altersvorsorge bei unterdurchschnittlichen und
mittleren Einkommen nach folgenden Regeln gefördert werden. Arbeiter
und Angestellte mit einem zu versteuernden Einkommen bis DM
35.000/70.000 p.a. (ledig/verheiratet) sowie
LohnersatzleistungsbezieherInnen sollten eine Zulage in Höhe von 50
Prozent des Aufwandes zur Altersvorsorge, maximal DM 400,00 jährlich
erhalten. Diese Fördersumme wurde im Zuge erster Verhandlungen mit der
parlamentarischen Opposition und als Reaktion auf den gesellschaftlichen
Protest erhöht. BezieherInnen von Einkommen bis zu den genannten
Grenzen sollen nun nach Modell 2 eine Zulage von bis zu DM 1.000,00 pro
Jahr erhalten, vorausgesetzt, sie haben zwei oder mehr Kinder. Die
Aufwendungen für die Kapitalvorsorge werden bis zu einem Höchstbetrag
von 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze steuerfrei gestellt.

Die ordnungsplitische Stoßrichtung:
Kapitalsystem frisst Sozialsystem

Auch die Vorstellung einer friedlichen Koexistenz der beiden Komponenten
des Mischsystems ist eine politisch gewollte Illusion. Das solidarische
Umlagesystem wird perspektivisch den Kürzeren ziehen. Hat das Prinzip
individueller Renditemaximierung das Ziel solidarischer Risikoabsicherung
als reformpolitisches Leitbild erst einmal verdrängt, wird die
Wettbewerbsschwäche der Sozial- gegenüber der Kapitalrente sich schnell
verstärken. Die Aufteilung der Aufgaben und mit ihnen der
Zukunftschancen zwischen den beiden System ist klar. Unter dem Regime
eines radikalisierten Äquivalenzdenkens und individueller
Kosten-Nutzen-Kalküle schlagen die sozial- und gesellschaftspolitisch
höchst wertvollen Solidarelemente der GRV schnell in Fesseln im
ordnungspolitischen Systemwettbewerb um.

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Das Rentenkonzept enthält Umverteilungsmechanismen, die auf jeden Fall
Leistungsanteile in Richtung des privaten Kapitalsystems lenken. Installiert
sind diese Mechanismen zum einen in der neuen Rentenanpassungsformel,
die keine Rückkehr zur Anbindung der Renten an die Nettolohnentwicklung
beinhaltet. Zusätzlich zu dem bereits dämpfend auf die jährlichen
Rentenanpassungen wirkenden privaten Vorsorgebetrag in Höhe von 4
Prozent werden zukünftig zwar steigende Rentenversicherungsbeiträge der
Beitragszahler mindernd bei der Rentenanpassung berücksichtigt, die
rentensteigernde Wirkung der Entlastung der Nettolöhne durch die
geplanten Steuerreform und den prognostizierten Rückgang der Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung jedoch nicht.

Der zweite Umverteilungsmechanismus verbirgt sich im Ausgleichsfaktor.
Mit dem neuen Kürzungsfaktor wächst der Anteil der Privatvorsorge an der
Gesamtversorgung von 0,15 Prozent in 2002 auf 12 Prozent in 2030.

Gewinner und Verlierer

Hat die rot-grüne Regierungskoalition durch ständig neu überarbeitete
Modelle zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit in der Rentendebatte
beigetragen, so lassen sich die Gewinner dieses Systemwechsels eindeutig
benennen. Der verteilungspolitische Gewinner des ganzen Unternehmens
sind die Arbeitgeber. Während nach heutigen Modellannahmen die
Versicherten in 2030 15 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Sicherung
eines Gesamtversorgungsniveaus von gut 68 Prozent aufbringen müssen,
beträgt der Beitragssatz der Arbeitgeber lediglich 11 Prozent.

Die zweite Gewinnergruppe stellen die Akteure des Kapitalmarktes, bis
jetzt vor allem die Versicherungskonzerne dar. Zu Recht stellt etwa die
Wochenzeitschrift "Die Zeit" fest: "Auf bis zu 3 Billionen Mark schätzen
Experten den Markt für die private Altersvorsorge - ein gigantischer
Kuchen, um dessen Stücke sich Versicherer, Fondsgesellschaften, Banken
und Bausparkasse balgen." Und mit Blick auf die geforderte Ausgestaltung
der Privatvorsorge, die insbesondere die private Versicherungswirtschaft
privilegiert, heißt es weiter: "Noch streiten Regierung und Opposition über
die Rentenreform. Ein Gewinner aber steht schon fest: die
Versicherungsbranche." (8)

Systemreform statt Systemwechsel

Der rot-grüne Systemwechsel verspielt die Chance auf eine Reform, die die
Potentiale der sozialen Rentenversicherung zur sozialpolitischen
Bewältigung des gesellschaftlichen Strukturwandels aktiviert.

Am Beginn einer Reform muss eine ehrliche Antwort auf zwei zentrale
Fragen stehen: Ist das heutige Leistungsniveau der gesetzlichen
Rentenversicherung ausreichend, zu hoch oder zu niedrig? Und: Sind die
heutigen Verteilungsrelationen zwischen den Generationen sowie zwischen
Kapital und Arbeit als gerecht anzusehen oder müssen sie verändert
werden? Der Regierungsentwurf beantwortet sie eindeutig: Das Niveau der
gesetzlichen Rentenversicherung wird offensichtlich als zu hoch
eingeschätzt und die Verteilungsstruktur soll zu Lasten von
BeitragszahlerInnen und RentnerInnen verschoben werden.

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Der wirkliche Reformbedarf:
Einstellung der Rentenversicherung auf den gesellschaftlichen
Wandel

Die gewerkschaftliche Position geht von anderen Antworten aus. Sie sieht
keine Spielräume bei der Senkung des Rentenniveaus und spricht sich dafür
aus, die zukünftig sich verstärkenden Risikopotenziale, die insbesondere aus
dem Wandel der Erwerbsarbeit entstehen, durch die Schließung von
Sicherungsslücken in der gesetzlichen Rentenversicherung und eine
paritätisch finanzierte, obligatorische und solidarisch ausgestaltete
betriebliche Altersversorgung zu schließen. Sie setzt auf einen fairen
Ausgleich zwischen den Generationen und die Beibehaltung der Parität
zwischen Kapital und Arbeit. Folgende Eckpunkte sollten zu einem solchen
Reformkonzept gehören:

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses schmälert nicht nur die
Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme; zunehmende
Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, befristete und niedrig entlohnte
Erwerbsarbeit, prekäre Selbständigkeit usw. erzeugen neue
Risikopotenziale, insbesondere im Alter und bei Verlust des Arbeitsplatzes.
Die Annahmen der statistischen Eckrente und damit ihr Sicherungsniveau
werden zunehmend zur Fiktion. (9) Auf diese Entwicklungen wäre in der
Rentenpolitik mit drei Reformstrategien zu reagieren: einmal mit einer
schrittweisen Ausdehnung der gesetzlichen Rentenversicherung auf alle
Erwerbstätigen, zum zweiten mit einer Höherbewertung z.B. von Zeiten der
Arbeitslosigkeit; und drittens mit der Stärkung bedarfsorientierter Elemente
der Mindestsicherung.

Mit Blick auf das gewandelte gesellschaftliche Rollenverständnis von
Frauen erweist sich die heutige Form der Hinterbliebenenversorgung als
nicht mehr zeitgemäß. Notwendig ist eine rentenpolitische Reform, die
abgeleitete durch eigenständige Alterssicherungsansprüche der Frauen
ersetzt.

Auch die Gewerkschaften sprechen sich keineswegs prinzipiell gegen
zusätzliche Vorsorgemaßnahmen aus, die über die gesetzliche
Rentenversicherung hinaus weisen. Bei einer Reform des Gesamtsystems
gesellschaftlicher Alterssicherung legen sie jedoch die Priorität auf den
Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge. Ein solcher Ausbau müsste sich
an folgenden Eckpunkten orientieren:

-
Arbeitgeber bringen mindestens die Hälfte der Beiträge auf.

-
Erworbene Anwartschaften müssen insolvenzgesichert werden und
"portabel" sein.

-
Die Anwartschaftsfinanzierung sollte auch in Zeiten fehlenden
Einkommens (Kindererziehung, Langzeiterkrankung) erfolgen, wobei
Zeiten der Arbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt für Arbeit zu
finanzieren wären.

-
Schließlich wäre eine angemessene Dynamisierung der Leistungen
sowie die Absicherung der biometrischen Risiken vorzusehen.

Finanzierung einer solidarischen Rentenreform

Bliebe die Frage der Finanzierung einer solidarischen Rentenreform. Durch
den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger wurden Prognosen
über die Entwicklung von Beitragssätzen und Rentenniveaus
durchgerechnet. Eine Prognoserechnung ergab folgendes Szenario:
Während sich das Rentenniveau von 70,11 Prozent im Jahre 2000 mit einem
Beitragssatz von 19,3 Prozent finanzieren ließ, erforderte die Finanzierung
eines Niveaus von 68,6 Prozent im Jahre 2030 einen gesamten Beitragssatz
von 23,9 Prozent. Die paritätisch aufgeteilte Beitragslast von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern würde also von 9,65 Prozent (2000) auf 11,95 Prozent
(2030) ansteigen, das Rentenniveau um 1,48 Prozentpunkte sinken.

Die Gewerkschaften sehen darin ein akzeptables Referenzszenario für die
weiteren Reformüberlegungen. Durch eine moderate Senkung des
Rentenniveaus trügen die RentenbezieherInnen zum ebenfalls relativ
moderaten Beitragssatzanstieg bei. Natürlich: auch diese
Standardniveaubetrachtung lässt Versorgungsprobleme aufgrund der
Einschränkungen im Leistungsrecht und des genannten Wandels der
Erwerbsbiographien außer acht. Doch sollte die zuvor skizzierte Reform der
Rentenversicherung zu einer merklichen Mehrbelastung führen oder ein
Beitragssatz von 24 Prozent gesellschaftlich als nicht akzeptabel angesehen
werden, stünden solidarische Reformoptionen des Finanzierungssystems zur
Verfügung.

Zum einen wären die unterschiedlichen Modelle einer Anhebung bzw.
Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) sowie der Erweiterung
des versicherten Personenkreises in der gesetzliche Rentenversicherung auf
ihre Finanzwirkungen zu prüfen. Zwar stünden der sofortigen
Einnahmeverbesserung zeitversetzt entsprechende Mehrausgaben für
zusätzliche Rentenzahlungen gegenüber. Aber man könnte mit der
Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bzw. der schrittweisen
Universalisierung etwa im Jahre 2015 beginnen, um die Mehreinnahmen mit
Beginn der demographisch induzierten Mehrbelastungen einsetzen zu
lassen. Die Mehrausgaben fielen dann Jahrzehnte später an, wenn aus
demographischen Gründen mit einer Entlastung der Rentenkassen zu
rechnen ist.

Zweitens sprechen viele Gründe für eine Neujustierung zwischen
Beitragsmitteln und Steuereinnahmen in der Rentenversicherung. Hier sind
zweifelsohne deutliche Spielräume vorhanden, ohne den
"Beitragscharakter" des Rentenversicherungssystems in Frage zu stellen.
Nach wie vor beträgt der West-Ost-Transfer in der gesetzlichen
Rentenversicherung jährlich DM 17 Mrd. (1999) und werden die
arbeitsmarktbedingten Mindereinnahmen bzw. Zusatzkosten auf ca. DM 35
Mrd. geschätzt. Eine Beteiligung aller Staatsbürger an der Finanzierung
dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe über Steuermittel wäre durchaus
zu rechtfertigen.

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Schließlich ist über eine Einbeziehung der betrieblichen Wertschöpfung in
die Finanzierung der Rentenversicherung zu reden. Die Vorstellungen
reichen von einem zusätzlichen Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitgeber bis
zu Modellen einer generellen Umbasierung des Arbeitgeberbeitrags auf die
Wertschöpfung. Die Gewerkschaften haben diese Modelle in der
Vergangenheit auch deshalb nur sehr zurückhaltend bewertet, weil sie nur
dann dauerhaft ergiebiger sind, wenn sie mit der paritätischen Finanzierung
( und zwar zulasten der Arbeitgeber) brechen; die Umsetzung der
Regierungspläne würde für weitere Reformdebatten die Lage grundlegend
verändern.

Ausblick

Was immer als Pro- oder Contra-Argument gegenüber den hier genannten
Maßnahmen angeführt werden mag, es sollte deutlich geworden sein: Die
gegenwärtigen Pläne der Bundesregierung und ihr verteilungs- und
ordnungspolitischer Paradigmenwechsel sind nicht ohne Alternativen. Es
spricht für die deutsche Sozialdemokratie, dass die Beschlüsse im
Parteivorstand und der Bundestagsfraktion, mit denen die Rentenpläne
durchgepaukt werden sollen, alles andere als überzeugende Mehrheiten
auswiesen. Sachliche Aufklärung der Bevölkerung, wie sie die
beschlossene Informationskampagne der Gewerkschaften vorsieht, ist eine
notwendige Maßnahme gesellschaftlicher Gegenwehr. Doch spätestens im
Herbst 2000 werden intensivere, betriebliche und gesellschaftliche
Aktionsformen hinzu kommen müssen. Ein geeignetes Motto für diese
Aktionen wäre. "Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Teil 2".

Anmerkungen

1
Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es gerade in den 90er
Jahren zu einer Vielzahl von Einschnitten im Leistungsrecht gekommen
ist (z.B. bei der Anrechnung von Ausbildungszeiten und Zeiten der
Arbeitslosigkeit, bei den Beitragszahlungen für Arbeitslose, bei der
Anhebung der Altersgrenzen bzw. der Einführung von
versicherungstechnischen Abschlägen), die ihre negative Wirkung in den
nächsten Jahrzehnten erst voll entfalten werden.

2
Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich der
Alterssicherungssysteme und Empfehlungen der Kommission. (hrsg. v.
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung). Bonn 1983, S. 141.

3
Fast gleichzeitig mit der Rentenreform wurde ein
"Haushaltssanierungsgesetz" beschlossen, das eine Senkung des
regulären Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung
vorsah. Diese wurde zu weiten Teilen durch eine Kürzung der
Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfe-Bezieher
aufgebracht.

4
Dokumentiert in: Soziale Sicherheit 2/2000, S. 53f.

5
Vgl. Deutschland erneuern - Rentenreform 2000, in: Soziale Sicherheit
6/2000, S. 182-185.

6
Zur Rentenreform 2000, Presseservice der SPD, v. 3.7.2000, Nr.
191/00.

7
Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat mittlerweile ein
Niveau von 60,7 Prozent bestätigt (VDR-aktuell, v. 6.7.2000). Die
Abweichung um 4 Prozentpunkte von dem durch den
SPD-Parteivorstand genannten Wert von 64 Prozent ergibtsich, wenn
aus der Bezugsgröße (durchschnittliche VGR-Nettoeinkommen) die vier
Prozent des Beitrags zur privaten Altersicherung herausgerechnet
werden. Dies ist notwendig, um einen aussagefähigen Vergleich mit
dem heutigen Rentenniveau und Rechtsstand ziehen zu können.

8
M. Brost/M.-L. Hauch-Fleck, Eine Allianz fürs Leben, in: Die Zeit, Nr.
26, v. 31. Juni 2000, S. 21f., hier S. 21.

9
Bereits heute (1998) betrug die durchschnittliche Zahl an angerechneten
Versicherungsjahren in Westdeutschland für Männer 39,7 und für
Frauen 25,3 Jahre und in Ostdeutschland 45,9 (Männer) bzw. 34,0
(Frauen) Jahre.

Horst Schmitthenner ist Vorstandsmitglied der IG Metall

E-Mail: horst.schmitthenner@igmetall.de
Internet: http://www.igmetall.de/die_igmetall/vorstand/schmitthenner.html