Mit ver.di auf dem Suche nach einer neuen Identität

Die Entgrenzung von Arbeit und Leben als Herausforderung gewerkschaftlicher Politik

"Wie war nochmal Dein Name, Kollege?". Die Behauptung, dass einige ÖTV-Delegierte ihre Schwierigkeiten mit allem Neuen haben, trifft zumindest auf den Namen ihres gerade gewählten Vorsitzenden Fran

"Wie war nochmal Dein Name, Kollege?". Die Behauptung, dass einige ÖTV-Delegierte ihre Schwierigkeiten mit allem Neuen haben, trifft zumindest auf den Namen ihres gerade gewählten Vorsitzenden Frank Bsirske zu. Warum die Delegierten auf ihrem richtungsweisenden Kongress Anfang November in Leipzig dem Beitritt zur geplanten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die notwendige Zustimmung verweigerten, was zum Abgang des langjährigen ÖTV-Vorsitzenden Herbert Mai führte und erneut Zweifel an der Reformfähigkeit der Dienstleistungsgewerkschaften aufkommen lies, dürfte indess tieferliegende Ursachen haben. Die Fusionsverhandlungen zwischen DAG, HBV, DPG, IG Medien und ÖTV waren bislang von organisationspolitischen Fragestellungen beherrscht. Die Sicherung von Funktionärsstellen, die Sorge um eine Dominanz der mitgliedsstarken ÖTV oder die Angst vor Traditionsverlusten sind sicherlich wichtige Momente dieser Debatte, jedoch keineswegs deren Wesensmerkmal. Insbesondere die Gewerkschaftslinke drängt auf eine Politisierung der Organisationsdebatte, denn der Erfolg von ver.di wird nicht zu letzt von der Fähigkeit abhängen, eine Struktur zu schaffen, welche der Heterogenität einer solchen Großorganisation gerecht wird, Minderheiteninteressen schützt und dennoch politische Schlagkraft sicherstellt. Die ÖTV legte bei diesen Diskussionen schon seit Monaten eine strukturkonservative Grundhaltung an den Tag, doch das eigentliche Problem liegt in der generell fehlenden Politisierung des Fusionsprozesses. Die Reformfähigkeit der Dienstleistungsgewerkschaften wird sich in der Herausforderung manifestieren, neben einem adäquaten Organisationsmodell ein inhaltliches und strategisches Profil für ver.di zu konzepieren, was der Gewerkschaftsbewegung im Dienstleistungssektor dringend benötigte Impulse liefert.Die arbeitspolitische Debatte wurde in den vergangenen Jahren von den Gewerkschaften weder initiiert noch beherrscht. Aufgrund fehlender ausstrahlungsfähiger Leitbilder und veränderter Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit befinden sich die Gewerkschaften auch heute zumeist in einer Defensivhaltung gegenüber den Phänomen einer veränderten Arbeitswelt und somit auch in einer ungünstigen Ausgangssituation bezüglich der Auseinandersetzungen mit Parteien, Regierung und Wirtschaftsverbänden.
In den Dienstleistungsgewerkschaften ist diese Misere besonders augenscheinlich, da der tertiäre Sektor sowohl qualitativ als auch quantitativ wesentlich deutlicher von der Ausweitung atypischer Beschäftigung und der Flexiblisierung von Arbeitszeiten betroffen ist als das verarbeitende Gewerbe.

Die für Frühjahr 2001 geplante Fusion der fünf Dienstleistungsgewerkschaften zur größten Einzelgewerkschaft der Welt mit 3,2 Millionen Mitglieder und ca. tausend vertretenen Berufen sollte daher viele Hoffnungen auf die Entstehung einer sowohl betrieblich wie politisch durchsetzungsfähigen Arbeitnehmerorganisation beinhalten. In der Diskussion um das zukünftige Profil der geplanten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vereinen sich immerhin die beiden Debatten über die emanzipativen Potentiale des Wandels der Erwerbsarbeit und über die zukünftige inhaltliche und strategische Ausrichtung gewerkschaftlicher Politik zu einem noch offenen, aber sehr dynamischen Prozess gewerkschaftlicher Neuorientierung.
Was den Umgang der Dienstleistungsgewerkschaften mit neuen Arbeitsverhältnissen und neuen Arbeitszeitregimen so kompliziert macht, ist zum einen deren Heterogenität, zum anderen deren Ambivalenz. Verbindet sich mit der Frage von Arbeitsverhältnissen und -zeitregime vor allem ein Regulationsproblem, bedeutet letzteres eine grundsätzliche politisch-programmatische Herausforderung. Der Dienstleistungsbereich präsentiert sich insgesamt sehr uneinheitlich, mit erheblichen qualitativen, quantitativen und temporären Unterschieden in einzelnen Teilbereichen. Segmentierung des Arbeitsmarktes und Polarisierung von Einkommen und Arbeitszeiten sind im Dienstleistungssektor wesentlich deutlicher ausgeprägt, als im sekundären Sektor. Allein von den ca. 6,5 Mio geringfügig Beschäftigten arbeiten über 90% im Dienstleistungssektor, deren vordringlicher Regulationsbedarf vor allem in der Beschäftigungssicherung, dem Kündigungsschutz und der sozialen Sicherung liegt. Umgekehrt finden sich hier überdurchschnittlich viele hochqualifizierte Beschäftigungsverhältnisse, die gänzlich andere Erfordernisse kollektiver Regulierung in sich tragen.
Ein Beispiel: Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und des tayloristischen Zeitregimes wurde und wird m.E. oft auch als Moment der Humanisierung von Arbeitsverhältnissen bewertet. In der Tat bieten viele der neuen Arbeitsverhältnisse die Möglichkeit einer neuen Zeitsouveränität und einer Abkehr eines auf den männlichen Haupternährer orientierten Familienbildes. Doch zeigt sich inzwischen auch, dass vor dem Hintergrund neuer Management- und Steuerungskonzepten ("indirekte Steuerung") in Unternehmen, die neu gewonnene Autonomie nur allzu schnell zum Fluch werden kann: In dem Maße, wie die Selbstbestimmung über die eigene Zeit steigt, nimmt häufig auch die Bereitschaft zur ´Selbstausbeutung` drastisch zu. Eine übersteigerte Bereitschaft mehr zu leisten und ´ohne Ende` zu arbeiten, wird mehr und mehr zum Charakteristikum qualifizierter Dienstleistungsjobs. "Durch die indirekte Steuerung wird es möglich, selbständiges, unternehmerisches Handeln in abhängige Beschäftigungsverhältnisse einzuführen - ohne dass an den Macht und Eigentumsverhältnisses gerüttelt werden muss." (Peters 1999, S. 9).

Auseinandersetzung um ein neues Profil

Viele der derzeitigen Entwicklungen im Dienstleistungssektor, insbesondere die Vielzahl neuer Arbeitszeitmodellen, tragen Elemente in sich, die seit Jahren zum gewerkschaftlichen Forderungskatalog gehören und sich gegen die starren Zeitvorgaben und Kommandostrukturen des Fordismus und das einseitig männlich dominierte Erwerbsarbeits- und Familienbild richteten. Gleichzeitig tragen diese Entwicklungen Tendenzen in sich, welche die Wirkungsmacht der Gewerkschaften weiter zu verringern und den Arbeitnehmern ein Mehr an Arbeit, Ausbeutung und Gesundheitsgefährdung zu bescheren drohen.
Mit der Gründung der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ist die Erwartung verbunden, neue arbeitspolitische und sozialstaatliche Leitbilder zu entwickeln, die Antworten auf die Veränderung des Normalarbeitsverhältnisses liefern, welches lange Zeit die handlungsleitende Bezugsgröße gewerkschaftlicher Politik darstellte.

Demgegenüber sind in der Auseinandersetzung um das zukünftige Profil von Gewerkschaften zwei Tendenzen besonders dominant:
Zum einen kann ein Trend zur Idealisierung des fordistischen Arbeitsregimes ausgemacht werden. Erhofft wird "die Rückkehr der deutschen Gesellschaft und damit auch der Gewerkschaften zu den Verhältnissen in der Alt- Bundesrepublik zwischen den 50er und den 80er Jahren." (Klönne 1999, S. 26). Ein solcher Ansatz leidet nicht nur unter einem schlechten ´Kurzzeitgedächtnis`, da er den hohen Entfremdungsgrad und den Ausschlusscharakter durch die männlich dominierte Erwerbsarbeit des fordistischen Kapitalismus verkennt. Nicht nur auf Grund der Entstehung eines neuen Zeit-, Werte- und Arbeitsregimes werden sich die Gewerkschaften von der liebgewonnenen Tradition des westdeutschen Wohlfahrtsstaat verabschieden müssen. Nach der einseitigen Aufkündigung des sozialstaatlichen Konsenses steht eine Restauration des vergangenen Sozialstaatsmodelles nicht auf der politischen Agenda.
Dem entgegen gesetzt steht ein Ansatz, der den Dienstleistungsgewerkschaften ein Selbstverständnis als Dienstleistungsagenturen abverlangt, deren wesentliche Aufgabe in der besseren Ressourcenausstattung und individuellen Beratung der Arbeitnehmer/innen liege. Die Befürworter einer solchen Strategie sehen darin eine Antwort auf die zunehmende Individualisierung von Erwerbsbiographien und arbeitsrechtlichen Problemen. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen wird diese Strategie zudem als Möglichkeit der Attraktivitätssteigerung betrachtet, da so der unmittelbare Nutzen einer Mitgliedschaft bei den Gewerkschaften erkennbar sei.
Eine Verbesserung der Beratungs- und Serviceangebote ist eine permanente Aufgabe von Interessensvertretungsorganisationen und gehört in den Bereich innerorganisatorischer Evaluation. Das Leitbild von ver.di als Dienstleistungsagentur für die Beschäftigten im tertiären Sektor geht jedoch weit drüber hinaus. Wenn sich ver.di an diesem Leitbild orientiert, so wird die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft zu einer unpolitischen Weiterbildungsorganisation verkommen, deren Aufgaben auch von kommerziellen Dienstleistern übernommen werden könnten (was früher oder später sicherlich auch passieren würde).

Beide Ansätze offenbaren die theoretische Misere der Dienstleistungsgewerkschaften. Gewerkschaftliche Politik darf nicht dem Versuch unterliegen, das Arbeits- und Zeitregime des Fordismus zu idealisieren, genauso wenig wie sie im Zuge von eindimensionalen Konsensstrategien vorauseilenden Gehorsam gegenüber den vermeintlichen Sachzwängen einer neuen Arbeitsgesellschaft praktizieren und damit ihren Anspruch als gesellschaftliche Gegenmacht aufgeben darf.

"Der Arbeit wieder ein Maß geben" und Flexibilisierung absichern

Während in Bezug auf die Spaltung des Arbeitsmarktes eine klare Positionierung der Gewerkschaften weniger Mühe macht, gibt es für die ´Entgrenzung` von Arbeits- und Lebenswelt keine allgemeinen Bewertungsmaßstäbe: "Arbeitsmarktpolitik muss auch unterscheiden (lernen), wann Flexibilisierung mehr Souveränität im individuellen Umgang mit den eigenen Ressourcen (etwa Verfügbarkeit, Zeit) bzw. der Ausgestaltung von Arbeit und Leben bedeutet und wann (und vor allem auch: für wen) damit in hoch problematischer Weise "Ent-Sicherung" betrieben wird."(Döhl, u.a. 2000, S. 14).

Durch die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeits- und Lebenswelt bekommt gewerkschaftliche Arbeitspolitik eine neue Dimension: In dem Moment, in dem Chancen und Risiken von Erwerbsbiographien stärker mit dem persönlichen Lebensentwurf verknüpft sind, ergibt sich für Gewerkschaften nicht mehr nur ein arbeitspolitischer Anspruch, sondern die Aufgabe einer "Neuverteilung von Lebenschancen" (Schmitthenner 1999). War der Freizeitbereich früher strikt vom Arbeitsleben getrennt, so droht durch die Entgrenzung der Arbeit auch eine Ökonomisierung zuvor geschützter Zeit- und Lebensräume; die Sphäre der ´Reproduktion` bzw. der privaten Lebensgestaltung gewinnt eine neue politische Brisanz. Das die Gewerkschaften sich diesem neuen Konfliktfeld stellen ist "Voraussetzung dafür, diffuse allgemeine (lebensweltliche) Fragen und Forderungen mit konkreten Interessen(gegensätzen) zu verknüpfen und damit als arbeitsmarktpolitische Forderungen zu reformulieren." (Döhl u.a. 2000, S. 16).

Es lassen sich zwei handlungsleitende Prinzipien einer politischen Strategie erkennen, welche die Entgrenzung von Arbeit und Leben progressiv gestaltbar machen:
1. Die Verbindung von Flexibilität und sozialer Sicherheit durch den Entwurf eines neuen Leitbildes des Sozialstaates, welches die Flexiblisierung von Arbeitsverhältnissen absichert und neue Optionen der selbstbestimmten Lebensplanung eröffnet;

2. Die Regulierung und Begrenzung von Arbeit und Beschäftigungsverhältnissen durch differenzierte arbeitsrechtliche Instrumentarien und qualitätssichernde Maßnahmen;

Beide Prinzipien sind mehrdimensional und vielschichtig, da sie nicht nur arbeitsrechtliche Regulierung, sondern auch tarifrechtliche Beziehungen und sozialstaatliche Leistungen umfassen.

Ob ver.di ein Erfolg wird hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, im Sinne dieser Prinzipien inhaltlich ausstrahlungsfähige Leitbilder zu entwickeln, sich aus der theoretischen Verteidigungshaltung zu befreien und an die Spitze der Debatte um eine Reform des fordistischen Regulationsmodells zu stellen.

Literatur :
Döhl, Volker u.a. 2000 : Krise der NormalArbeit(s)Politik. Entgrenzung von Arbeit - neue Anforderungen an Arbeitspolitik. In : WSI -Mitteilungen 1/2000.
Klönne, Arno 1999 : Die Gewerkschaften auf dem geordneten Rückzug. Rück-und Ausblicke. In : Schlemmer, Gisbert u.a. : Kapitalismus ohne Gewerkschaften ? Eine Jahrhundertbilanz. Hamburg.
Peters, Klaus 2000 : Die neue Selbständigkeit von Arbeit. In : Pickshaus, u.a. "Der Arbeit wieder ein Maß geben". Neue Managementkonzepte und Anforderungen an eine gewerkschaftliche Arbeitspolitik. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2000. Hamburg.
Schmitthenner, Horst 1999: Neuverteilung von Lebenschancen. Eckpunkte für ein gewerkschaftliches Reformprojekt im Übergang ins 21. Jahrhundert. In: Schlemmer, Gisbert u.a. (Hrsg.) : Kapitalismus ohne Gewerkschaften ? Eine Jahrhundertbilanz. Hamburg.

Matthias Jobelius, studiert Politikwissenschaft, lebt z. Z. in Berlin