Aktualität und Zukunft des Marxschen Denkens

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus diskutiert Uli Schöler den Sinn des Marxschen Ansatzes.

Etwas über die "Aktualität und Zukunft des Marxschen Denkens" ausführen zu wollen, darf ohne Übertreibung als ein gewisses Wagnis bezeichnet werden. Setzt man sich auf diese Weise doch unweigerlich - wenn schon nicht dem Spott und dem Hohngelächter -, so wenigstens dem bemitleidenden Kopfschütteln aus, wie sich jemand allen Ernstes noch mit derart verstaubtem Gedankengut abgeben könne. Kopfschütteln ruft dies im konkreten Fall auch deshalb hervor, weil der Autor doch eigentlich einem ganz ehrenwerten Beruf nachgeht, der zunächst einmal ein derartiges gedankliches Abenteuertum nicht nahelegt.
Was treibt einen wie mich gleichwohl um, sich ausgerechnet jetzt mit derartigen Fragestellungen zu beschäftigten. Meine Antwort darauf lautet in aller Kürze: Die vergangenen zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und der Implosion des "realsozialistischen" Staatensystems haben zwar eine Menge an Glaubensbekenntnissen hervorgebracht, aber bislang noch außerordentlich wenig zu einer differenzierten Neubewertung des Marxschen Erbes beigetragen. Zu diesen Glaubensbekenntnissen zähle ich die vielfachen Abgesänge auf Marx und Engels von links bis rechts, kongenial in Norbert Blüms Diktum zusammengefaßt: "Marx ist tot und Jesus lebt". Dazu zähle ich aber auch all die tapferen Bekundungen (so sehr sie im einzelnen recht haben mögen), daß der sogenannte reale Sozialismus ja kein wirklicher gewesen sei und deshalb Marxens Werk weiter in unbefleckter Reinheit erstrahle.
Nicht ganz auf derselben Ebene, aber in ihren Konsequenzen auch nicht viel weitsichtiger, liegen all diejenigen, die den "toten Hund" im 150. Jahr des "Kommunistischen Manifests" zu neuem Leben erweck-ten und - oh Wunder - entdeckten, daß es Marx und Engels waren, die wohl am frühesten in der Zunft der ökonomischen Wissenschaft das als prägende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise ausgemacht hatten, was uns heute mit dem Begriff der "Globalisierung" so locker über die Lippen geht: die Tendenz nämlich, sich als umfassender Weltmarkt durchzusetzen. Aber mehr als diese beileibe nicht neue Erkenntnis war in den Feuilletons des Frühjahrs 1998 zwischen "Zeit" und "FAZ" nicht zu haben, also keine wirklich neue Annäherung an die Fragestellung, ob denn die daran geknüpften Marxschen Transformationsvorstellungen ebenfalls noch taugen.
Seither ist es wieder ruhig geworden um Marx und Engels, ein neues Jubiläum steht aktuell nicht an. So macht allenfalls ein Publizist wie Konrad Löw kurzzeitig Furore, der öffentlich darüber Klage führt, daß von den Wissenschaftlern der "Internationalen Marx-Engels-Stiftung" zu viele öffentliche Gelder unnütz vergeudet werden. Mit anderen Worten: Es besteht auch von dieser Seite her Handlungsbedarf, allerdings endlich jenseits aller Glaubensbekenntnisse und auf der Basis neuen und quellengesättigten wissenschaftlichen Zugangs, so wie es ja auch den neuen Editionsrichtlinien der Herausgeber der fortgeführten Marx-Engels-Gesamtausgabe (kurz: MEGA) entspricht. Mein eigener bescheidener Beitrag in dieser Richtung ging und geht von der Fragestellung aus, welche Rückwirkungen das Scheitern des sowjetischen Systems auf das analytische wie theoretische Gedankengebäude der beiden großen Vordenker der sozialistischen und Arbeiterbewegung hat. Denn, soviel dürfte unstrittig sein, ihr Denken hat sich immer - um den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zu zitieren - als eine "Philosophie der Praxis" verstanden. Oder, in ihren eigenen Worten ausgedrückt: "Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage."1
Eine durchaus bequeme und vermeintlich durch vielfältige Aussagen von Marx und Engels selbst belegte Auffassung konnte jedoch immer wieder darauf verweisen, daß beide zwar eine ausgearbeitete Analyse kapitalistisch geprägter Gesellschaften geliefert hätten mit der Prognose, daß deren unlösbare Widersprüche auf den Sozialismus beziehungsweise Kommunismus zutreiben würden, aber ein ausgearbeitetes Transformationsprogramm der beiden oder gar Vorstellungen über die Gestalt einer anderen, neuen Gesellschaft nicht vorlägen. Wer kennt sie nicht, die Absagen an die "Rezepte aus der Garküche der Zukunft"!
Meine kritische Erwiderung lautet: Dies ist aus zwei Gründen falsch. Erstens ergibt sich eine Reihe von Strukturmerkmalen der neuen - wenn man so will: sozialistischen - Gesellschaft aus den analysierten und beschriebenen, zu überwindenden Funktionsdefiziten der alten, kapitalistisch strukturierten und den Bedingungen ihrer Überwindung. Und zweitens lassen sich - wie ich es in meinem Buch auch getan habe - aus den vielfältigsten Schriften und Texten von Marx und Engels Detailvorstellungen zusammentragen, die gleichwohl ein beschreibbares Gesamtbild der angestrebten neuen Gesellschafts- und Wirtschafts-verfassung ergeben. Schauen wir uns dies also näher an - wobei ich vorweg schicken muß, daß bei der thesenhaften Zusammenfassung manche Überspitzung und Verkürzung hingenommen werden muß.
These 1: Als weiterhin weitgehend brauchbar erweist sich ihre konkrete Untersuchung und Analyse der Funktionsbedingungen und Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise. Dies schließt die Analyse der verschiedenen Formen der Teilung der Arbeit ein (einschließlich eines, allerdings nur partiell zutreffenden und zudem die Probleme reduzierenden, Blicks auf die Geschlechterbeziehungen), den daraus entspringenden Entfremdungszusammenhang sowie die Freilegung der der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Krisenzyklen. Klarer als in anderen ökonomisch-theoretischen Ansätzen wird im Marxschen Denken die Tendenz zu einem globusumspannenden kapitalistischen Weltmarkt entwickelt.
Es liest sich darüber hinaus wie eine Beschreibung der heutigen Problemlagen, wenn Marx die Janusköpfigkeit des Fortschritts seiner Zeit beschreibt. Jedes Ding scheint zur Zeit - so führt er 1856 in einer Rede aus - mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt sei, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, lasse sie zugleich verkümmern und zehre sie bis zur Erschöpfung aus. Die neuen Quellen des Reichtums verwandelten sich so durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft erschienen erkauft durch einen Verlust an Charakter. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheine nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite und damit der Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen der gegenwärtigen Epoche sei eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.2
Aber schon die Bestätigung dieser Aktualität des Marxschen Denkens in der Analyse fällt nicht uneingeschränkt aus. Es lassen sich sowohl Passagen finden, die die später kultivierte Auffassung von der "Naturnotwendigkeit" des kapitalistischen Zusammenbruchs nährten, als auch solche, aus denen durchaus eine immer neue Regenerations- und Wandlungsfähigkeit kapitalistischer Ökonomien abzulesen war. Zu letzteren gehört unter anderem die leider strategisch nicht wirklich fortentwickelte Unterscheidung zwischen extensiven und intensiven Wachstumsmöglichkeiten einer derartigen Produktionsweise.
These 2: Ähnlich widersprüchlich fällt das Urteil bezüglich der hiermit verknüpften Analyse einer Tendenz zur Konzentration und Zentralisation von Kapital aus. Wer wollte bestreiten, daß sich derartige Vorgänge ökonomischer - und damit vermittelt auch politischer - Machtzusammenballungen immer neu vor unseren Augen vollziehen. Gerade am Ende der neunziger Jahre erleben wir eine neue Fusions- und Übernahmewelle auch als Antwort auf die Globalisierung, sei es bei den Banken, den Versicherungen, den Auto- oder den Pharmakonzernen. Der Chef der US-Kartellbehörde verwies vor zwei Jahren darauf, daß dabei die Größenordnungen beständig wachsen. Sei vor kurzem noch eine Fusion im Umfang von einer Milliarde Dollar als riesig empfunden worden, sei dies jetzt zur Routine geworden, seien Fälle bis zu 20 Milliarden Dollar zu entscheiden.
Auch hinsichtlich dieses Theorems neigten Marx und Engels jedoch dazu, aus der Tendenz eine lineare Entwicklung zu konstruieren, die durch den historischen Prozeß eindeutig widerlegt ist. Etwa die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts sind durch die deutliche Zurücknahme zuvor bereits erreichter Konzentrationsprozesse, einschließlich der damit verbundenen Fertigungstiefen, geprägt.
These 3: Während der von Marx entwickelte Begriff einer kapitali-stischen Produktionsweise ein im wesentlichen funktional-analytischer ist, haben andere Theoretiker und Wirtschaftshistoriker einen anderen Zugang gewählt. Der französische Forscher Fernand Braudel etwa untersucht "Kapitalismus", wie er es nennt, stärker aus einer historischen Entwicklungsperspektive und in seinem Verhältnis zu den weit älteren und entsprechend als überwölbend verstandenen Marktverhältnissen. Beide Sichtweisen schließen sich nicht völlig aus. Allerdings bietet letzterer Ansatz einen doppelten Vorzug: Wir behalten das Nebeneinander unterschiedlicher Produktionsweisen und -formen (national wie international) im Blick. Und uns eröffnet sich die Möglichkeit einer Betrachtung der relativen Autonomie von Marktprozessen und ihrer Besonderheiten, Vorzüge und Schwierigkeiten.
Die Marktprozesse werden jedoch in den Bearbeitungen von Marx und noch mehr von Engels deutlich vernachlässigt. Für Marx sind es dieselben Umstände, die auf der einen Seite die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion hervorrufen und die auf der anderen Seite alle diejenigen Warenproduktionen allmählich zerstören, die auf Selbstarbeit der Produzenten gründen oder bloß auf dem Verkauf des überschüssigen Produkts als Ware.3 Damit bleibt - perspektivisch - nur der kapitalistisch geprägte Weltmarkt übrig. Ja, hierin liegt sogar ein Wesenszug, der die ganze Periode charakterisiert: "Das Wesentliche für die kapitalistische Produktion ist die Entwicklung des Produkts zur Ware, die wesentlich mit der Ausdehnung des Markts, Schöpfung des Weltmarkts, also foreign trade, verbunden."4 Abgesehen von der frühen Entwicklung kapitalistischer Produktion sieht er das dynamische Moment in der Sphäre der Produktion, beobachtet damit vorrangig die Funktionsbedingungen von Märkten nur unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse beziehungsweise dieses Wechselverhältnis der beiden Sphären zueinander. Diese Konzentration hat durchaus fatale Folgen für seine Transformationsvorstellungen.
These 4: Als besonders fatal erweisen sich vielfach vereinfachende Schlußfolgerungen aus differenzierenderen Analysen zunächst schon da, wo Marx und Engels im Prozeß der Konzentration und Zentralisation des Kapitals bereits Formen "vergesellschafteten" Produzierens erblickten. Die Bildung von Aktiengesellschaften bedeutet danach die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum bereits innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Entsprechend lesen wir - nicht nur, aber doch auch - immer wieder "staatssozialistische" Passagen, in denen von der fortschreitenden Konzentration allen Kapitals, allen Ackerbaus, aller Industrie, allen Transports und allen Austauschs in den Händen des Staates a dem Betrieb der großen Industrie und der Eisenbahn durch den Staat nach der Erringung der Demokratie die Rede ist - auch wenn es dann im selben Text an anderer Stelle wieder heißt, daß die neue Gesellschaftsordnung die Industrie und alle Produktionszweige durch die ganze Gesellschaft und für gemeinschaftliche Rechnungen betreiben lassen müsse.5
In dieser Perspektive finden sich, ganz allgemein gesprochen, zunächst kaum Ansatzpunkte etwa für eine gemischtwirtschaftliche Transformationsperiode oder -strategie, geschweige denn genauere Vorstellungen über genossenschaftliche Produktion. Die Perspektive ist eindeutig auf die Abschaffung allen Privateigentums an Produk- tionsmitteln gerichtet, weil Marx die Befürchtung hegt, daß jedwedes Dulden der Weiterexistenz von Lohnarbeit das Wiederaufkommen von kapitalistischer Produktion auf kleiner Stufenleiter befördere. Diese Auffassung ist nicht nur wenig fantasievoll in bezug auf die konkrete Ausgestaltung genossenschaftlicher Produktion, sie ist vor allem blind für die Gefahren, die mit einer Monopolstellung öffentlicher Produzenten einhergehen: Autarkiebestrebungen, innere Bürokratisierungs- und Erstarrungsvorgänge, Probleme einer vernünftigen und überschau-baren Steuerung interner wie externer Vorgänge, mangelnde Flexibilität, stagnative Tendenzen aufgrund fehlenden Außendrucks und eigener Monopolstellung, Innovationsträgheit, Verschwendungs- und Ausschußproduktion mangels effektiver Kontrolle usw. Es dürfte aufgefallen sein, daß hier vor allem Stichworte genannt wurden, die für die ökonomische Entwicklung der sowjetisch beeinflußten Staaten kennzeichnend geworden sind. Zumindest in dieser Hinsicht hatten sich Marx und Engels als schlechte Ratgeber erwiesen.
These 5: Die entscheidende Schwäche in den Marxschen Transformationsvorstellungen liegt meines Erachtens in der völligen Unterschätzung der positiven Regulationsmechanismen des Marktes und des Wettbewerbs. Mit der Aufhebung der "Basis", sprich der kapitalistischen Weise der Produktion - so lesen wir in der "Deutschen Ideologie" -, löst sich nach Auffassung von Marx die Macht des Verhältnisses von Nachfrage und Zufuhr in Nichts auf.6 Und noch schärfer formuliert es viele Jahre später Friedrich Engels: "Sobald die Produzenten ihr Produkt nicht mehr direkt selbst verzehrten, sondern es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber Â… die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt werde gegen den Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung. Darum kann keine Gesellschaft auf die Dauer die Herrschaft über ihre eigne Produktion und die Kontrolle über die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Produktionsprozesses behalten, die nicht den Austausch zwischen einzelnen abschafft."7 Der allgemeine und ausschließliche Regelungsmechanismus der Zirkulationssphäre der neuen Gesellschaft, den sie beschreiben, ist nicht der des Austauschs, der Steuerung durch Angebot und Nachfrage, sondern der der Verteilung: Verteilt werden die Arbeitskräfte auf die verschiedenen Zweige der Produktion, verteilt werden die für diese Produktion notwendigen Produktions- und Arbeitsmittel und verteilt werden die zur individuellen Konsumtion hergestellten und bereitgehaltenen Produkte. Immer wieder betonen Marx und Engels, daß es auf der einen Seite um "direkt gesellschaftliche Aneignung" im Bereich der Produktion und auf der anderen um "direkt individuelle Aneignung" hinsichtlich der Lebens- und Genußmittel geht.8 Charakteristisch für die "sozialistische Gesellschaft" ist ein neuer Verteilungsmodus, mit dem man zunächst einmal anfängt, und danach beginnt die Suche nach der "allgemeine(n) Tendenz Â…, worin sich die Weiterentwicklung bewegt".9
Zunächst ist hierzu festzustellen, daß alle später unternommenen, bis in die neunziger Jahre unseres Jahrhunderts reichenden Versuche, Marx und Engels mit "marktsozialistischen" Vorstellungen zu versöhnen, in deren Werk keine reale Grundlage finden. Meine hier nur andeutungsweise widerzugebende These hinsichtlich des Scheiterns der "realsozialistischen" Ökonomien lautet jedoch, daß diese gerade an ihrem Defizit des inneren Antriebs, an einem fehlenden Mechanismus zugrunde gingen, der den Effizienz- und Rationalisierungsdruck ka- pitalistischer Marktwirtschaften hätte ersetzen können. So wurde die sowjetische Wirtschaft genau in dem Moment gegenüber den Ökonomien des Westens entscheidend zurückgeworfen, als diese im Gefolge der Ölpreiskrise der frühen siebziger Jahre zu einem energie- und ressourcenschonenden, das heißt intensiven Akkumulationstypus überzugehen gezwungen waren und diesen Übergang auch bewältigten. Marx hatte zwar durchaus die verschiedenen Möglichkeiten extensiven und intensiven Produktionswachstums gesehen, aber er hatte keinen Mechanismus gezeigt, der in der neuen Ökonomie an die Stelle des Wettbewerbs- und Innovationsdrucks hätte treten können. So ist er zwar sicherlich nicht für jedwede strukturelle Ausprägung der sowje-tischen Ökonomie verantwortlich zu machen, aber schon dafür, kein dynamisierungstaugliches Zukunftsmodell entworfen zu haben.
These 6: Dieser traurige Befund wird noch durch eine Reihe bedeutsamer Begleiterscheinungen unterstützt. Das Marxsche Modell enthielt auch keinerlei positive Vorgaben für die künftige Rolle ökonomischer (und gesellschaftlicher) Vermittlungsinstanzen, ja es legte letztlich eher deren "Absterben" nahe. Teils aufgrund der spontanen Ereignisse, teils aufgrund "sozialistischer" Überzeugungen räumten die russischen Revolutionäre (die Arbeiter in den Fabriken wie die politischen Akteure an den Schreibtischen) nach der Revolution all das beiseite, was als Regelungsinstanzen und Antriebskräfte des alten Wirtschaftsmechanismus funktioniert hatte: den Markt, die Ware-Geld-Beziehung, den Zwischenhandel, die Konkurrenz zwischen den Unternehmen, die Gewinnorientierung der Unternehmen (auch Profit genannt), deren Verpflichtung zu einer betrieblichen Rechnungsführung oder Bilanzierung, die Differenzierung der Einkommen als internes Steuerungs- und Antriebsmoment. Die Formel von der "unmittelbaren" gesellschaftlichen Produktion, Verteilung und Aneignung legte Schlußfolgerungen nahe, daß es des ganzen Instrumentariums unabhängiger Akteure, Verbände, Interessengruppen und Vermittlungsinstanzen (einschließlich der Marktmechanismen) selbst in einer Gesellschaft des Übergangs nicht mehr bedürfe. Denn Ziel war ja schließlich eine Gesellschaft, in der die letzten Verkehrsformen der alten Gesellschaft schon bald sollten wegfallen können.
These 7: Haben wir also aus heutiger Sicht und unter Auswertung der Erfahrungen des sowjetischen Weges erhebliche Zweifel daran anzumelden, ob wir wirklich noch von einem kohärenten "sozialistischen Projekt" bei Marx und Engels sprechen können, so gilt dies auch für die Frage des Subjekts künftiger Gesellschaftsveränderungen. Nochmals in notwendiger Verkürzung: Zum einen liefern sie widersprüchliche Hinweise über den Charakter dieses Subjekts. Dieses konstituiert sich nach Marx einerseits aufgrund eines kollektiven Verelendungszusammenhangs. Während nämlich auf der einen Seite durch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals die Zahl der Kapitalmagnaten ständig abnehme, wachse die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden Arbeiterklasse. Bei Engels lesen wir noch knapper davon, daß die kapitalistische Produktionsweise eine "unerträgliche Klassenlage" erzeugt habe, nämlich den "sich täglich verschärfenden Gegensatz von immer wenigern, aber immer reicheren Kapitalisten und von immer zahlreicheren und im ganzen und großen immer schlechter gestellten besitzlosen Lohnarbeitern."10
Andererseits heißt es in ihrer Schrift Die Deutsche Ideologie, die Individuen müßten sich die vorhandene Totalität der Produktivkräfte aneignen, und zwar nicht nur, um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon um überhaupt ihre Existenz sicherzustellen. Diese Aneignung sei "zuerst bedingt durch den anzueignenden Gegenstand - die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte". Und im Anschluß daran fahren sie fort: "Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst."11
An dieser Stelle kann nur festgehalten werden, daß Marx und Engels eine wirkliche Auflösung dieses Widerspruchs nicht gelingt. Es wird nicht wirklich kenntlich, ob und wie die Überwindung der alten Gesellschaft durch verelendete Proletarier oder durch entwickelte Individuen gelingen kann. Aber selbst wenn es diesen Widerspruch nicht gäbe, müßten wir zum anderen heute beachten, daß sich die Sozialstrukturen moderner postindustrieller Gesellschaften in einem dramatischen Wandel befinden. Die Wissens-, Informations- und Dienstleistungsökonomien der Zukunft konstituieren keinerlei homogenisierbares revolutionäres Subjekt mit gemeinsamer Interessenlage. Vielmehr droht eine Perspektive, innerhalb derer immer weniger Menschen zur Produktion gesamtgesellschaftlichen Reichtums benötigt werden - mit der offenen Frage, welche Perspektiven für die übrigen, die weltweit bald die Mehrzahl stellen könnten, bleibt.
These 8: Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat die Geschlechterfrage eine wachsende Bedeutung erlangt. Auch in dieser Hinsicht fällt die Bilanz für Marx und Engels zwiespältig aus. Positiv klingt es zunächst, wenn wir bei Engels lesen: "Die erste Teilung der Arbeit ist die von Mann und Weib zur Kinderzeugung Â… Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche."12
Auch wenn damit eine für diese Zeit gewiß revolutionäre Aussage getroffen wurde, bleiben die perspektivischen Gedanken doch in Bahnen stecken, die die Geschlechterfrage letztlich der Lösung der allgemeinen sozialen Frage unterordnen. Sowohl in der Vorstellung einer "naturwüchsigen" Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau als auch in der (entsprechend durchaus "konsequenten") Zuweisung von Pflichten nur an die Frauen "im Privatdienst der Familie" (wie es an anderen Stellen heißt13) taucht ein Verständnis auf, aufgrund dessen der breitere Unterdrückungszusammenhang im Verhältnis der Geschlechter nicht gesehen werden kann. Hier muß der knappe Hinweis genügen, daß das Patriarchat mit seinen unterschiedlichen kulturell, religiös, ökonomisch, habituell, mental und sexuell geprägten Formen der Unterdrückungen, Zurückstellungen, Abhängigkeiten und Zwängen für Frauen wohl weitaus älter ist, als von Engels angenommen wurde. Da es diese älteren und zudem ganz unterschiedlichen Ausprägungen von Unterdrückung der Frau gibt, die bis in unsere auch heute noch weitgehend patriarchalische Gesellschaft hineinreichen, ist es weder logisch noch wahrscheinlich, daß mit dem Wegfall der ökonomischen Überlegenheit des Mannes etwa dessen Vorherrschaft in der Ehe "von selbst" wegfalle, wie Engels noch gemeint hat.14
These 9: Streifen wir schließlich noch kurz den immer bedeutsamer werdenden Zusammenhang der Ökologie. Dabei sollte vorausgeschickt werden, daß es vermessen wäre, wollte man bei Marx und Engels ein ähnliches Bewußtsein ökologischer Zusammenhänge voraussetzen, wie wir es in den letzten Jahrzehnten aufgrund einer ganzen Folge zunehmender ökologischer Krisenmomente entwickelt haben. Aber ohne daß davon gesprochen werden könnte, Marx und Engels hätten eine ihrer Analyse der ökonomischen wie gesellschaftlichen Verhältnisse vergleichbare systematische Durchdringung des Austauschprozesses zwischen Mensch und Natur geliefert, läßt sich zeigen, daß ihre Überlegungen immer auf der Vorstellung der Naturbedingtheit und Naturvermitteltheit der menschlichen Gattung und der von ihr initiierten Vergesellschaftungsprozesse beruhten. Marx schreibt: "Alle Produktion ist Aneignung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform." Und so heißt es auch zu ihrem Geschichtsverständnis: "Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und in die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig."15
Marx sieht durchaus die Gefahren, die mit der gegenwärtigen Produktionsweise auch für die Natur verknüpft sind. Er schreibt: "Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist ist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land Â… von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."16
Es ließen sich weitere Belege liefern, die zeigen, daß Marx und Engels beileibe nicht die Propheten eines ungehemmten kapitalistischen Fortschritts auf Kosten der Natur waren, den es in einer sozialistischen Ökonomie nur zu vervollkommnen gelte. Gerade in dieser Beziehung hatten die Sowjetunion und die ihr verbundene Staatengemeinschaft keinerlei Recht, ihre desaströse Bilanz auf das Konto der vermeintlichen Theorieväter zu schreiben. Marx und Engels liefern durchaus Anhaltspunkte für die Notwendigkeit eines Umsteuerns in Richtung auf eine ökologische, nachhaltige Weise der Produktion.
These 10 und zugleich zusammenfassende Schlußbilanz: Verkürzt ließe sich sagen, daß Marx und Engels eine in großen Teilen immer noch zutreffende Analyse kapitalistischer Produktionsabläufe liefern, aus denen allerdings - vor dem Hintergrund der Erfahrungen unseres Jahrhunderts - keine tragfähigen Transformationsvorstellungen entwickelt werden. Wenn man so will, hat damit der sich auf Marx und Engels beziehende Teil der sozialistischen Bewegung zugleich sein Projekt und sein Subjekt verloren. Die zentrale Erfahrung lautet daher zunächst, die Unabdingbarkeit von Marktprozessen auf der Basis von gemischten Eigentumsformen, das heißt vor allem auch von privatem Eigentum an Produktionsmitteln zu akzeptieren. Diese Erkenntnis ist nur gegen die Theorie von Marx, nicht mit ihr zu haben. Marktsysteme erweisen sich als höchst elastisch gegenüber historischen Herausforderungen, sie sind grundsätzlich reformfähig, ermöglichen Fehlerkorrekturen, das Suchen nach alternativen Entwicklungspfaden, während in einer Planwirtschaft kein Mechanismus der Korrektur existiert, der aus einer einmal beschrittenen Sackgasse wieder herausführt. Damit verliert die von Marx und Engels nicht zuletzt im "Kommunistischen Manifest" in den Mittelpunkt gestellte "Eigentumsfrage" ihre Zentralität. Im sozialistischen Sinne rückt nunmehr die Frage ins Zentrum, ob es gesellschaftlich getroffene Entscheidungen sind, aufgrund derer die einzelnen ökonomischen Akteure nach den jeweils praktisch besten Lösungen suchen, oder ob es der anonyme Profitmechanismus ist, der als Antriebsmoment über Sinn und Zweck ökonomischer Prozesse allein entscheidet. Über derartige, bescheidenere Ansätze ließe sich auch im Detail eine Menge sagen. Das ist aber nicht Thema dieses Beitrags.
Ein weiterer Hinweis ist notwendig: Vernachlässigt wurde - auch als Folge der Leninschen Tradition - der Teil im Denken von Marx und Engels, in dem stärker der Aspekt des evolutionären "Sich-Herausarbeitens" aus sowohl überholten als auch reifen Verhältnissen betont wurde. Dieser Aspekt beinhaltet genau genommen das Prinzip einer evolutionären Durchsetzung eines völlig neuen, das heißt letztlich revolutionären Prinzips. Darin steckt keine Paradoxie oder Tautologie. Auch industrielle Revolutionen vollziehen sich nicht als plötzlicher, revolutionärer Bruch, sondern im Rahmen eines längeren, manchmal jahrhundertelangen Wandels. Bereits der Befund bis hier hin und die Tatsache, daß auch für die kurz gestreiften anderen gesellschaftlichen Herausforderungen allenfalls Ansätze für kritisches Weiterdenken bei Marx und Engels geliefert werden, verbietet es aus meiner Sicht wenigstens für lange Zeit, weiterhin mit einem Begriff des "Marxismus" zu operieren. Dafür spricht auch eine Reihe anderer Gründe, die hier nicht weiter erläutert werden kann.
Was Marx und Engels uns allerdings heute noch liefern, ist eine Methode kritischer Wirklichkeitsaneignung, auch "historisch-materialistisch" genannt, die - wie es Lukács einmal formuliert hat - selbst dann überdauern wird, wenn alle ihre konkreten theoretischen Annahmen widerlegt sein sollten. Und dies ist durchaus nicht gering zu schätzen.
Marx und Engels haben damit ihre Rolle als "Säulenheilige" der sozialistischen Bewegung verloren. Aber ebensowenig, wie Max Weber einen "Weberismus" braucht, damit seine Denkanstöße fortwirken, wird es künftig eines "Marxismus" bedürfen. Die sozialistische und sozialdemokratische Bewegung kommt also überhaupt nicht daran vorbei, ihre politische Orientierung wieder stärker auf ihre klassischen Grundwerte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit, der Solidarität und der Gleichheit zurückzubeziehen und diese in möglichst konkrete praktische Schritte zu übersetzen. Und als ob dies nicht schon schwer genug wäre, wird sie dabei auf die globalen Herausforderungen auch globale Antworten finden müssen. Den Leitstern bildet dabei heute weniger denn je eine bereits klar umrissene, sich im Sinne von Marx aus den alten kapitalistisch verfaßten ökonomischen Verhältnissen bereits abzeichnende neue sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung (wie sie auch die SPD in ihrem Berliner Programm von 1989 weiter anstrebt). Orientierungsfunktion hat vielmehr der "kategorische Imperativ" des jungen Marx, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".17